Nummernerstellung

Als Artist ist mein Programm die Grundlage meiner Existenz. Programm kann als Artist heißen: Einzelne Nummern von meist fünf bis zehn Minuten Länge oder auch längere, zusammenhängende Programme, die thematisch viele Nummern miteinander verbinden bis hin zum zweistündigen Soloprogramm.

Vor ungefähr zehn Jahren begann ich, damals als gerade gewordener Jongliertrainer im Geislinger Zirkus Fitze Fatze, erste Nummern zu erstellen. Zu der Zeit waren das noch keine Solonummern, sondern wir traten meist mit zwei bis sechs Jongleuren/Jongleusen auf.

Meist war da zuerst ein Musikstück, zu dem ich mir gut eine Nummer mit bestimmten Requisiten vorstellen konnte. Zum Schlagzeugbeat von ‚Played-a-live‘ jonglierten wir Bälle und zu ‚The bad touch‘ Diabolos. Zunächst waren diese Nummern noch einfach gehalten, das heißt wir überlegten uns eine Reihenfolge, wann wer welche Tricks macht. Manchmal passte das an bestimmten Stellen zur Musik, oft gab die Musik auch nur die passende ‚Hintergrundstimmung‘. Nach dem Prinzip kann man auch noch ziemlich kurzfristig, also zwei bis drei Proben vor dem Auftritt, eine einfache Nummer hinbekommen, was für unser damaliges Niveau und die Anforderungen unseres Publikums in Ordnung war.

Dann kann man Nummern aber auch thematisch angehen. Ein klarer Fall hiervon ist die Piratennummer, die ich mit meiner damaligen Jonglierpartnerin sowie zwei Kindern vom Zirkus als ‚Beiwerk‘ entworfen habe – natürlich mit Musik aus ‚Fluch der Karibik‘ – mittlerweile ein Klassiker in (Jugend)zirkusnummern, vermute ich.

Seit gut vier Jahren mache ich ernsthaft Solonummern – meine erste richtige Solonummer war eine im Elvis-Stil zu ‚A little less conversation‘, wobei ich mit Bouncingbällen, das sind große Flummis, in der Luft und am Boden abwechselnd jongliert habe. Dazu kamen Schnipsen und amateurhafte Tanzversuche im Elvis-Stil. Noch führte ich das ausschließlich im Rahmen des Zirkus Fitze Fatze auf.

2014 begann ich dann, an einer gaukelhaften Ballnummer zu arbeiten, die ich technisch ziemlich anspruchsvoll gestalten wollte – zu sehr, um sie wie geplant sicher hinzukriegen. Hier wollte ich nicht nur jeden Wurf passend zur Musik machen, sondern auch durch Mimik und Kostüm und natürlich passend zur Musik einen komischen und fingerfertigen Gaukler darstellen. Durch die hohen technischen Anforderungen, die ich an mich selbst gestellt hatte, war ich jedoch so darauf konzentriert, die Tricks hinzukriegen, dass von meinem Bühnencharakter nicht viel blieb. Ging dann was schief, war ich erst recht nervös. Mein Ziel war letztlich auch, das Publikum mit meiner Geschicktheit zu überwältigen. Technisch war ich dazu noch nicht ausgereift genug, um es wie auf dem Papier geplant zu machen. Ob ich es heute bin, weiß ich nicht, denn die Nummer spiel ich seit einiger Zeit nicht mehr – irgendwann konnte ich die Gaukelmusik nicht mehr hören und hatte auch genug von der Rolle. Mit dieser Solonummer, dem ‚gaukelnden Balljongleur‘, bin ich jedenfalls erstmals auch außerhalb vom Zirkus aufgetreten, etwa bei verschiedenen Open Stages und auf einer Benefizgala.

Kurz danach erstellte ich zusätzlich eine eher atmosphärische und ruhigere Keulennummer, wobei ich auch hier stark auf die Musik setzte. Ich nannte sie ‚Der moderne Keulenjongleur‘.

Ebenfalls 2015 überlegte ich mir die fein zur Musik choreographierte Leuchtballnummer, die ich bis heute noch gerne spiele. Der Vorteil bei Leuchtbällen im Dunkeln ist – wenn man es so sehen will – dass man mich kaum sieht und es deshalb kaum auf den Charakter ankommt. Zudem bin ich dann oft weniger nervös, auch weil ich nicht vom Scheinwerferlicht geblendet werde.

In den letzten zwei Jahren, beim Übergang vom leidenschaftlichen Hobbyjongleur zum Profi, der eigentlich immer noch andauert, kam ich mit diesen und ein paar weiteren Nummern mit etwas mehr Bühnencharakter (Fackeln, Feuerpois, Hut/Hüte, Leuchtkeulen sowie eine Sprachnummer mit Diabolos und ein paar kleinen Straßenkunstideen) ganz gut zurecht und machte meinem Publikum meist gute Laune.

Jedoch waren diese noch keine richtigen Profinummern, vielleicht eher semiprofessionell.

Das führt mich zu der entscheidenden Frage: Was macht eine Profinummer aus?

An dieser Stelle hatte ich den Artikel unterbrochen, für zwei Monate. Jetzt schreibe ich weiter.

Die obige Frage lässt sich kaum grundsätzlich beantworten. Nur so viel: eine Profinummer muss, um wirklich gut zu werden, eingespielt sein. Das heißt, Dutzende, vielleicht hundert Mal getestet werden, bis sie einen hohen Grad an Sicherheit und Zuverlässigkeit hat. In dieser Zeit werden auch immer wieder Details verbessert.

Doch wo liegen die entscheidenden Aspekte, die Profi- von Amateurnummern unterscheiden? Oder sollte man anders eingrenzen und sagen: Gute von schlechten Nummern, egal ob von Berufsartisten oder nicht?

Durch folgende Aspekte können sich Nummern hervorheben:

  • Gezeigte Technik/technische Schwierigkeit

  • Charakter/Persona/Rolle/Spiel des Artisten

  • Szenographie/Licht/Musik/Kostüm

  • Choreographie/Geschichte

  • Innovativität der Darbietung
Diese Aspekte sind wiederum voneinander abhängig und je besser sie zusammenpassen bzw. je mehr von ihnen auf hohem Niveau vorhanden sind, desto besser und einzigartiger ist eine Nummer.

Laut meinem Artistenberater Tom Shanon aus Paris gibt es nur wenige Artisten, die über einen starken Charakter hinaus noch so etwas wie Seele zeigen. Dies kann kaum erlernt werden und bedarf viel Erfahrung.

Um zu wissen, was wirklich gute Nummern sind und herauszufinden, wo ich hin will, so riet mir Tom, solle ich mir im Internet – und wenn möglich natürlich auch live – möglichst viele Nummern von absoluten Top-Artisten, durchaus nicht nur Jongleuren, ansehen und sie analysieren.

Mein persönliches Problem ist seit Langem, dass mir Vieles gefällt und ich so manches schon ausprobiert habe. Es fällt mir echt schwer, mich ganz für eine Sache zu entscheiden und zu sagen: Das ist mein Ding! So wie das viele Artisten tun: Ein Stil, vielleicht sogar nur eine zehnminütige Darbietung, auf die sie über Jahre hinarbeiten, sie immer weiterentwickeln und mit ihr Karriere machen. Eine starke Nummer kann, so Tom, auch der Türöffner sein fürs Showbusiness, wo man anschließend leichter weitere Nummern und ein Soloprogramm unterbringen kann.

Seit Ende meines Studiums im Herbst 2016 bin ich auf der Suche nach der richtigen einen, starken Nummer für mich. Zunächst hatte ich die Idee für 'Boxes', eine emotionale, poetische, ja fast schon philosophische Nummer mit viel Charakter in meiner Rolle als zuerst gelangweilter Hutmensch und dann, im Traum, faszinierter Jongleur mit orange leuchtenden Bällen. Dazu der gleichnamige Song 'Boxes' von Charlie Winston, für mich eines der berührendsten Lieder. Ich brachte in monatelangem Üben die Nummer zu einem Grad, wo ich sie mit dem einen oder anderen Drop und noch nicht unverkrampft auf Open Stages spielen konnte. Sie kam auch gar nicht schlecht an, doch ich merkte, dass ich die nötige Sicherheit fürs freie, unverkrampfte Spiel in dieser Nummer nicht erreichen würde. Zudem war es ein persönliches Projekt, das ich mit Leidenschaft angegangen und aus dem ich gelernt habe. Die tiefere Botschaft, auch im englischen Text des Songs steckend, kam nicht an beim Publikum, wenngleich Emotionen durchaus rüberkamen.

Ich kam also nicht weiter und beschloss, an einem 2. Act zu arbeiten, diesmal ganz ungewöhnlich statt zur Musik mit Sprache. So wollte ich, inspiriert von einem Buch, Jonglieren als Metapher fürs Leben aufzeigen. Die Nummer 'Jonglieren ist Leben' ging dann auch über acht Minuten und war so etwas wie eine philosophische Reise durchs Jonglieren. Auch diese führte ich von Frühjahr bis Herbst hier und da auf und da diese von mir 'Jonglerie-Poesie' getaufte Gattung ziemlich ungewöhnlich und für viele neu war, stieß sie durchaus auf Interesse. Die Schwierigkeit der vorgeführten Tricks war hier nicht das eigentliche Problem. Es war mehr ein Vortrag, auch aufgrund fehlender Musik fehlte die Emotionalität, es hat die Leute nicht genug berührt – und Menschen zu berühren, ist laut Tom das Wichtigste in Nummern, egal mit was man das schafft.

Schließlich war es Herbst, ein Jahr rum und viele Auftritte mit „klassischen“ Nummern lagen hinter mit. Meine 'Boxes'-Nummer hatte sich irgendwann von alleine erledigt und ich fragte mich, wie ich 'Jonglieren ist Leben' weiterentwickeln kann, vielleicht mit Musik zur Sprache, die nur aus wenigen Worten bestehen sollte. Zuerst kam ich wieder mal auf den Pfad des theoretisch-genau-passend-zur-Musik-eine-Nummer-Aufschreibens, wobei ich diese in verschiedene Parts unterteilte – Kontaktkugel, Keulen, Bälle, Hüte und Mix (Mischung aus verschiedenen Gegenständen), die jeweils einem Spielcharakter zugeordnet waren. Doch ich merkte schließlich, dass ich mir erstens schwierige Tricks vorgenommen hatte, die ich lange nicht sicher beherrschen konnte und viel gravierender – dass die Teile insgesamt zu lang für eine typische Bühnennummer waren – deutlich über zehn Minuten. Einzelne Ideen davon behalte ich aber durchaus, um sie später in einem Soloprogramm unterbringen zu können. Doch zuerst die eine starke Nummer.

Also, neuer, aktueller Versuch: Stand jetzt ist die geplante Bühnennummer zweigeteilt: Im A-Teil jongliere ich in vier Unterteilen streng getrennt ästhetisch dargebotene Tricks mit Bällen, Keulen, Ringen und Hüten, ehe ein „Missgeschick“ beim Aufräumen dazu führt, dass ich ausraste und in meinem Wahnsinn und dem entstandenen Durcheinander die Jonglage mit den verschiedenen Props (Jonglierrequisiten) gleichzeitig entdecke. Dies ist dann der B-Teil. Musik habe ich mittlerweile für die beiden Teile, zwei Stücke vom gleichen Act. Zusammen geht das Ganze auch stattliche zehn Minuten, was an der Grenze zum Passenden liegt. An dieser Nummer, ihrer Choreographie, den Bewegungen und dem Charakter mit seinen zwei Seiten arbeite ich also gerade. Da wird sich sicher auch noch viel verändern. Die Eigenschaft, mich nicht auf eine Art Props festlegen zu wollen, versuche ich hier zu nutzen und in einen Vorteil umzumünzen, da die Jonglage mit verschiedenen Gegenständen unter Profis wenig verbreitet ist, jedoch ganz viele interessante, neu wirkende Möglichkeiten bietet. So wird die Aufgabe für 2018, diesmal auch mit Hilfe von erfahrenen Künstlern und Regisseuren, diese Nummer zu entwickeln und hin zur Bühnenreife auf nach und nach größeren Bühnen zu bringen – mit viel Geduld, Disziplin, Hingabe und liebevoller Detailarbeit. Der vorläufige Name der Nummer lautet übrigens 'Dr. Juggle & Mr. Play'.

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Chris Blessing
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