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Als Artist muss ich mir grundsätzlich einige Fragen in Bezug aufs Publikum stellen:


1. Für welches Publikum spiele ich bei einem Auftritt?

Dabei gibt es verschiedene Möglichkeiten:

  • Familien mit Kindern: Ein ziemlich dankbares Publikum und vor allem bei Straßenauftritten und bei Festen im Freien anzutreffen. Dank ihrer natürlichen Neugier sind Kinder meist die ersten Zuschauer bei Shows mit Straßencharakter, wo es darum geht, zuerst Leute zu sammeln. Oft kommen sie schon vor der Show auf mich zu, wenn sie sehen, dass es gleich los geht. Das kann mitunter auch nerven, wenn es meine Vorbereitung stört oder manche ungefragt nach Requisiten greifen. Manchmal läuft ein Kind während der Vorstellung mitten durch den Kreis, in dem ich spiele. Manche registrieren das nicht mal. Zu den Kindern gehören natürlich die Eltern, die meist froh sind, wenn ihren Kleinen was geboten wird. Die meisten geben am Ende einer Straßenshow ihren Kids Geld, um den Hut zu füllen. Leider sind Eltern meist wenig großzügig: Nur selten gelangen so Scheine in den Hut, stattdessen ziemlich viele Münzen. Vielleicht wollen sie ihren Kindern auch keine Scheine anvertrauen – ganz sicher bin ich mir nicht. Jedoch: „Kleinvieh“ macht auch Mist. Der Vorteil an Kindern als Publikum: Sie sind durch komische Tricks mit viel Mimik, Schauspiel oder auch Sprache schnell zu begeistern und es gibt immer eine Auswahl von Freiwilligen, falls nötig. Auch Applaus ist unschwer zu bekommen, manchmal mehr, als mir recht ist. Überhaupt können mir manche minutenlang gebannt zuschauen – eine Gabe, die die meisten Erwachsenen längst verloren haben. Ab einem bestimmten Alter sind sich Jugendliche bei meinen Shows oft nicht sicher, ob sie das cool oder peinlich finden sollen. Sehr verbreitet ist heute der Reflex, mit dem Smartphone zu filmen. Ich will nicht wissen, in wie vielen Whats-App-Chats schon Material von mir kursiert. Um Erlaubnis gefragt hat bisher niemand.

  • Erwachsene unterschiedlichen Alters: Hier gilt der Kinderbonus nicht mehr. Zu viel Albernheit kommt meist schlecht an. Ansonsten kommt es immer auf die Art des Events an:

  • Auf Open Stages und in Varietés findet sich meist eher kunstaffines Publikum, dem man ruhig mal eine Nummer mit zweiter Ebene anvertrauen kann.

  • Bei Straßenshows braucht es gute Entertainerqualitäten und in jedem Fall sollten die Leute einbezogen werden in die Show. Wenn dies klappt, sind durchaus auch Scheine drin. Doch auch hier kann es ungemütlich werden, wenn – vorwiegend in den Abendstunden – der Eine oder Andere schon ein Bierchen zu viel intus hat und dies durch sein Verhalten zum Ausdruck bringt.

  • Bei privaten Feiern oder Firmenfesten kommt es wohl auch eher auf den Unterhaltungswert als auf künstlerische Inhalte an. Im Idealfall kombiniert man beides stimmig. Ein großer Vorteil ist, dass man bei Erwachsenen mehr mit Sprachwitz, Niveau und auch anzüglichen Inhalten arbeiten kann – so lange man nicht bei einer Kirchenfeier auftritt ;)


  • Senioren: Ein spezielles Publikum, mehrheitlich fast nur anzutreffen in Seniorenheimen und bei hohen Geburtstagen. Ähnlich wie Kinder leicht begeisterungsfähig und zum Mitklatschen animierbar.


2. Eine andere Frage ist, inwiefern ich mich auf eine bestimmte Zielgruppe bzw. auf ein Metier spezialisiere. Dies ist beeinflusst von persönlichen Vorlieben, künstlerischen Aspekten, aber auch finanziellen Fragen. Relativ klar unterscheiden kann man zwei Gebiete: Straße und Bühne. Auf der Straße kommt es auf den Kontakt und die Beziehung zum Publikum an und auf eine gute Show ohne Längen. Entertainerqualitäten sind gefragt und Flexibilität, ja Improvisationstalent angesichts verschiedener schwer kalkulierbarer Faktoren (Reaktionen aus dem Publikum, Wetter, äußere Einflüsse). Legt man mehr Wert auf künstlerische Inhalte, so sind die Bühnen von Theatern, Varietés und diversen Festivals besser geeignet. Auch moderne Zirkusse kann man so bespielen. Und wer weder hohe künstlerische Ambitionen hat noch gerne auf der Straße spielt, kann sich für Firmenfeste und private Feiern buchen lassen. Auch hier braucht es eine packende Show, gerne mit Spezialeffekten wie Schwarzlicht, Lasern, Feuer oder Pyrotechnik. Eine gewisses Niveau an technischen Fähigkeiten sollte angesichts starker Konkurrenz in diesem Feld vorhanden sein – dann steht auch Auftritten in Zirkussen nichts im Weg.

Ein spezielles Metier sind Shows auf Kreuzfahrtschiffen, mit denen ich bisher keine Erfahrung habe.

Natürlich sind keinesfalls alle artistischen Projekte klar einer Kategorie zuzuordnen. Es gibt sowohl Spezialisten auf einem Gebiet als auch Allrounder, die hier und da, ganz unterschiedlich gebucht werden. Man kann auch unterscheiden zwischen kurzfristigen Engagements bei Einzelveranstaltungen oder über ein Wochenende und langfristigen wie in Zirkussen, Varietés, Freizeitparks oder auf Schiffen.



3. Inwiefern richte ich mich nach dem Publikum bei der Gestaltung eines Programms? Neulich hatte ich mit einer Freundin eine interessante Diskussion darüber.

Bei artistischer Arbeit kann man einerseits aus innerem Drang und voller Leidenschaft nur um der Kunst willen und zur eigenen Zufriedenheit artistische Werke schaffen, die man dann gerne auch mit dem Publikum teilt. Andererseits ist es auch möglich, von vorneherein bestimmte Zuschauer im Sinn zu haben und deren Erwartungen schon bei den ersten Ideen für eine Nummer miteinzubeziehen. Die meisten Artisten befinden sich wohl irgendwo dazwischen. Ich halte auch einen Mittelweg für sinnvoll: Denn einerseits möchte ich mich niemandem anbiedern und nichts zu Erwartbares zeigen, sondern etwas, mit dem ich selbst mich gerne zeige und als Zuschauer zufrieden wäre. Andererseits – und dies gilt vor allem wenn man von seinen Auftritten lebt – tut ein gewisser Pragmatismus Not, denn am Ende gilt es, ein Publikum zu erreichen.



Doch welche Wirkungen sollen erzielt werden?

  • Beeindrucken durch Fähigkeiten und Technik sowie Effekte?

  • Unterhalten durch eine gute Show, als Entertainer?

  • Emotionen wecken? Es ist noch eher möglich, Leute zum Lachen oder auch Fürchten zu bringen, Viel schwieriger jedoch, sie mit einer poetischen Nummer in eine traurig-schöne Stimmung zu versetzen, wie ich es mit meiner neuesten Nummer vorhabe. Einmal ist es mir tatsächlich gelungen, mit einer Leuchtballnummer eine Studentin zum Weinen zu bringen – auch ohne dass sie einen Ball abbekommen hat ;) Es hilft, dafür eine Geschichte zu erzählen, bei der etwa die Requisiten als Metaphern wirken und auf zweiter Ebene für etwas Anderes stehen.

  • Eine Botschaft rüberbringen: Will man mit einer gesellschaftskritischen oder politischen Aussage Menschen zum Nachdenken bringen oder aufrütteln? Auch das ist im modernen Zirkus möglich, mit einer zweiten Ebene.


Während die ersten beiden der vier obigen Punkte mehr für klassischen Zirkus stehen, findet man letztere beide mehr im modernen Zirkus.



4. Letztlich: Wie ist während des Auftritts das Verhältnis zum Publikum? Auch hier ist die schon erwähnte Unterscheidung zwischen Straße und Bühne wichtig. Nehmen wir mal die Bühne, wo das Publikum in der Regel nicht einfach weglaufen kann. Ich denke, grundsätzlich wichtig ist, die Leute bei allem, was man tut, stets wahrzunehmen. Denn sie merken es, wenn jemand so auf einen Trick konzentriert ist, dass er die Außenwelt vergisst, als wäre er allein am Üben. Es gilt, eine Balance zu finden zwischen dem Spielen mit Artistik, also dem Inneren, dem Geschehen auf der Bühne, und der Aufmerksamkeit fürs Äußere.

Zwar ist es im modernen Zirkus nicht unbedingt notwendig, aber doch hilfreich, immer wieder gezielt ins Publikum zu blicken. Somit kommen Emotionen direkter an und auch Applaus kann bewusst eingefordert werden. Letztlich zeigt man damit auch eine Wertschätzung für sein Publikum, die bei völliger „Ignoranz“ nicht zu erreichen ist. Abhängig davon, ob man eine Geschichte erzählt, wie ich es in meiner neuen Nummer tue, ist es mitunter jedoch sinnvoll, ganz entschieden die Außenwelt auszublenden und wie in einer Blase zu spielen. Zumindest zum Ende einer solchen Nummer ist der Kontakt zum Publikum wichtig und auch ein klarer und passender Abgang mit Verbeugung oder Pose ist entscheidend dafür, wie man in Erinnerung bleibt.

Auch Fehler, und diese geschehen nun mal immer wieder, geben die Möglichkeit, über den Kontakt zum Publikum etwas Positives daraus zu machen. Wie heißt es in Sebastian Krämers ironischem Lied 'Die Welt braucht keine Jongleure': „Vielleicht fällt ihm ja wirklich was runter, und er denkt sich, man nimmt ihm das krumm. Dabei wird’s da für uns ja erst spannend: Fährt er fort oder bringt er sich um?“ Krass formuliert, aber tatsächlich können Fehler eine Nummer im schlimmsten Fall kaputt machen, im besten Fall erst spannend, einen Trick schwieriger und den Artisten mitunter sympathischer erscheinen lassen – je nachdem, wie er damit umgeht. Auch absichtlich eingebaute Fehler sind ein gutes Mittel zur Spannungssteigerung – so lange dann beim zweiten oder spätestens dritten Mal ein Trick auch tatsächlich funktioniert.



So gerne ich auch aus reiner Freude für mich oder mit anderen jongliere und Zirkus mache, so ist es mir doch ein wesentlicher Antrieb, mit meiner Artistik andere Leute, die Zuschauer, anzuregen, zu berühren, zu unterhalten, sie zum Lächeln und Lachen und vielleicht auch mal zum Nachdenken zu bringen. Das befriedigt letztlich wieder mich als Artist und ist einer der wesentlichen Gründe, warum ich dies zu meinem Beruf gewählt habe und nicht zuletzt Antrieb für meine tägliche Arbeit – wie diese aussieht, davon werde ich in meinem nächsten Beitrag erzählen.

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Chris Blessing
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